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Tauchgang #14: Lies mich!

  • parthenaintze0
  • Jun 18
  • 5 min read

Es gibt Menschen, die betreten einen Raum, und irgendwie weiß man sofort, wie sie drauf sind. Entspannt. Unsicher. Genervt. Offen. Kein Wort wurde gesprochen, und doch liegt etwas in der Luft. Magie? Gedankenlesen? Ein verborgenes Talent? Viel wahrscheinlicher ist: Du kannst Menschen lesen. Das muss nicht heißen, dass du in ihre Seele blicken kannst, sondern vielmehr, dass du die Kunst des aufmerksamen Lauschens zwischen den Zeilen beherrscht.

 

Der wichtigste Verbündete und Informant beim Lesen anderer, der wie ein stiller Lautsprecher ständig zu uns spricht, ist die Körpersprache. Verschlossene Haltung? Arme verschränkt? Blick zur Tür? Könnte auf Unbehagen oder Fluchtbereitschaft deuten. Offene Gestik, entspannte Mimik, leicht geneigter Kopf? Klingt nach Interesse und Vertrauen. Oft ist die Verlockung ist groß, Körpersprache wie ein Lexikon zu lesen, nach dem Prinzip „wenn x, dann y“. Das kann funktionieren, muss aber nicht. Körperssignale lesen ist weniger eine mathematische Formel, sondern mehr wie Wetter beobachten: Es geht eher um Cluster, Muster und vor allem um Kontext. Wenn jemand friert, hat er nicht unbedingt etwas zu verbergen. Vielleicht ist ihm einfach nur kalt.

 

Ein weiterer Schlüssel liegt in dem, was unausgesprochen bleibt. Zum Beispiel in Pausen, Ausweichantworten oder kleinen Wortwahl-Verschiebungen. Wer auf die Frage „Wie war dein Wochenende?“ mit einem „Ganz okay“ antwortet und dann schnell das Thema wechselt, verrät möglicherweise mehr durch das wie als durch das was er sagt. Winzige sprachliche Details, wie Betonungen, Pausen, Wiederholungen, können soziale Dynamiken spiegeln. Es lohnt sich also, genau hinzuhören und die gesendeten Signale im Zusammenspiel zu betrachten:

 


 


Auch die Forschung stützt diese These: Psychologe Albert Mehrabian zeigte schon in den 1970ern, dass beim Ausdruck von Emotionen nicht nur Worte zählen, sondern vor allem Tonfall und Körpersprache. Seine oft zitierte 7-38-55-Regel legt nahe, dass 93 % unserer Kommunikation nonverbal ist, besonders in emotional aufgeladenen Situationen. Neurobiologisch lässt sich das durch sogenannte Spiegelneuronen erklären: Unser Gehirn (siehe Tauchgang #1) reagiert auf beobachtete Emotionen und Handlungen anderer, als würden wir sie selbst erleben. Sie ermöglichen uns, intuitiv zu spüren, was im Gegenüber vorgeht. Kein Zauber, sondern pure Biologie. Plus: Diese neuronale Resonanz ist eine Grundlage für Mitgefühl und für das, was wir als „soziale Intuition“ und Empathie erleben. Spiegelneuronen funktionieren umso präziser, je besser wir in Kontakt mit unseren eigenen Emotionen sind. Selbstkenntnis ist somit eine wichtige Voraussetzung für echtes Verstehen.

 

Warum ist das so wichtig?

 

Zwischen den Zeilen liegt die Einladung zur Verbindung. Unser Miteinander scheitert selten an dem, was wir sagen, und eher an dem, was wir nicht sagen. Wer lernt, genauer hinzuschauen, erkennt oft den Schmerz hinter der Wut, die Unsicherheit hinter dem Lächeln oder das Nein hinter einem Ja. Es ist ein menschlicher Akt und ein Schlüssel für gelingende Beziehungen. Menschen lesen zu können, ist die Kunst, einen fragenden Blick zu erkennen, bevor eine Bitte ausgesprochen wird. Es ist das feine Gespür für Stimmungen, das uns innehalten lässt, bevor wir über jemanden urteilen.

 

Gerade im Führungsalltag ist diese Fähigkeit Gold wert. Führung heißt nicht nur Entscheidungen treffen. Es heißt auch, Stimmungen erfassen, unausgesprochene Konflikte erkennen, Potenziale wahrnehmen und Zwischentöne deuten. Wer Körpersprache, Mikroreaktionen und emotionale Signale richtig einordnet, erkennt oft viel früher, wenn im Team etwas kippt: Motivation lässt nach, Unsicherheit wächst oder stille Überforderung macht sich breit. Gleichzeitig hilft diese Sensibilität, situations- und bedürfnisgerecht zu führen: Wann braucht es eine klare Ansage, wann eher Ermutigung? Wer braucht Rückzug, wer Resonanz? Wer sagt „alles gut“, meint aber „bitte frag nochmal“? In der Führungsforschung spricht man hier von Social Sensitivity: der Fähigkeit, emotionale und nonverbale Hinweise im Team aufzunehmen. Studien, wie z. B. die von Google im Rahmen des Projekts „Aristotle“, zeigen, dass Teams mit hoher sozialer Sensitivität nicht nur besser funktionieren; sie sind auch resilienter und kreativer.

  

Wie kann man Menschen lesen üben?

 

Z.B. mit drei einfachen Alltagsübungen:

 

  • Beobachten, nicht bewerten. Schau dich um. Wer wirkt gestresst? Wer offen? Was löst diesen Eindruck aus? Was beobachtest du, was siehst du?

  • Aktiv zuhören. Stelle offene Fragen und achte auf Antwortmuster, Tonfall, Pausen.

  • Spiegeln. Dezent! Wenn du Körpersprache und Tonfall anpasst, entsteht oft eine ganz neue Nähe, und damit auch neue Einsichten.

 

Der allererste Schritt jedoch besteht darin, sich selbst lesen zu lernen. Wie sollen wir andere verstehen, wenn wir uns selbst kaum kennen? Wer sich und seine Muster, seine Trigger, seine Schutzmechanismen nicht lesen kann, wird sein Gegenüber mit großer Wahrscheinlichkeit verzerrt wahrnehmen. Was wir sehen, ist oft ein Spiegel unserer eigenen Innenwelt (siehe Tauchgang #3). Deshalb beginnt gutes Menschenlesen immer mit einem Blick nach innen. Warum triggert mich dieses Verhalten? Warum interpretiere ich Schweigen als Ablehnung? Warum brauche ich so schnell Klarheit? Diese Fragen sind keine Schwäche; sie sind die Brille, durch die echte Empathie erst möglich wird. Was für eine Schatztruhe für mehr Achtsamkeit! Wer die eigene Gefühlswelt kennt, kann auch besser mit anderen mitfühlen und hinter die Fassade blicken. Die Fähigkeit, Emotionen zu erkennen und angemessen darauf zu reagieren, ist entscheidend für soziale Kompetenz und für  Beziehungsarbeit, sowohl zu uns selbst, als auch zu anderen. Es ist das bewusste Wahrnehmen dessen, was in uns und zwischen uns lebt, was gesagt wird und was vielleicht nicht gesagt werden kann oder (noch nicht) gesagt werden will.

  

Der Kern des Pudels:

Menschen zu lesen ist kein Trick, sondern im Wesentlichen ein Training in Achtsamkeit. Es geht nicht darum, andere wie ein Laborexperiment zu analysieren, sondern darum, ihnen mit wachem Blick und offenem Herzen zu begegnen. Die Kunst besteht darin, im Moment zu sein, die eigenen Gedanken und Downloads im Kopf auszuschalten, und neugierig und ohne Wertung zu beobachten.

 

Das schönste Geschenk, das du dir selbst dabei machen kannst? Je mehr du andere lesen lernst, desto mehr verstehst du auch dich. Und umgekehrt. „The Empathy Effect“ von Helen Riess, Professorin an der Harvard Medical School, zeigt eindrücklich, wie Empathie entsteht und wie sie durch gezielte Achtsamkeit im Kontakt vertieft werden kann. Ihre Arbeit verbindet Neurowissenschaft mit Beziehungstheorie, sei es im medizinischen Alltag, in der Führung oder in privaten Beziehungen. Besonder im Führungsalltag ist die Fähigkeit, Menschen lesen zu können, mehr als nur eine esoterische Spielerei. Eine Führungskraft mit feinem Radar kann oft das leisten, wozu keine KPI taugt: Vertrauen aufbauen, Klima gestalten, Unsichtbares sichtbar machen.

 

Wenn wir bereit sind, uns selbst genauso aufmerksam zu betrachten wie andere, entsteht etwas Wertvolles: Echte Nähe. Nicht perfekt. Nicht kontrollierbar. Nicht manipulierbar. Aber authentisch und ehrlich.

 

Wie Coaching unterstützen kann:

Coaching kann so etwas wie der „Leseschlüssel“ zum eigenen Innenleben sein. Menschen lesen beginnt oft mit einem anderen Blick auf uns selbst. Hier kommt Coaching ins Spiel. Ein Coach stellt nicht nur Fragen; er spiegelt, beobachtet und hört zwischen den Zeilen. Das schafft einen sicheren Raum, in dem man sich selbst fast wie ein Buch entdecken kann, Kapitel für Kapitel. Oft wird dabei sichtbar, wie wir auf andere wirken, was wir aussenden (bewusst oder unbewusst), und wie wir Emotionen und Reaktionen anderer interpretieren - oder eben auch mal fehlinterpretieren.

 

Im Coaching lernst du auch deine eigenen Körpersignale zu erkennen, mit Unsicherheiten bewusst umzugehen, empathisch zu spiegeln und deine Wahrnehmung zu verfeinern. Mit der Zeit kann daraus ein ganz neues Kommunikationsbewusstsein, wie eine Art innerer Übersetzer, entstehen, der dir hilft, sowohl dich selbst als auch dein Gegenüber klarer zu verstehen. Coaching ist ein erster Schritt auf dem Weg, ein feinerer Leser des Lebens, deinerselbst und der Menschen um dich herum zu werden.

 

Meine Bücher des Monats:

The dictionary of body language (Joe Navarro, 2018)

 
 
 

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