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Tauchgang #7: Unsichtbare Wunden




Unser Autonomes Nervensystem (ANS) ist unser Bodyguard (siehe Vertiefung #4 bis #6). Es reagiert auf Gefahr, indem es das sympathische Nervensystem aktiviert: Wir sind in Alarmbereitschaft und gehen normalerweise in den Kampf- oder Fluchtmodus über. Wenn wir das Ereignis jedoch als so gefährlich empfinden, dass weder Kampf noch Flucht helfen und der Stress sich so extrem anfühlt, dass er uns überwältigt, schalten wir in den Freeze-Modus. Sobald die Gefahr vorüber ist, beginnen wir uns wieder zu beruhigen, und unsere Schutzmechanismen ziehen sich zurück, so dass das Gefühl der Verbundenheit mit uns selbst und anderen die Oberhand gewinnen kann. Was aber, wenn wir, aus welchen Gründen auch immer, auf der untersten Sprosse der Leiter stecken bleiben? Wann kann es besonders schwierig sein, zur Ruhe zu kommen und sich zu entspannen? Diese Hürde ist besonders hoch, wenn das Ereignis, das es zu überwinden gilt, mit einer Traumareaktion verbunden ist.


Was ist Trauma?


Trauma ist eine Erfahrung, die wir als besonders belastend oder beunruhigend empfinden und die lang anhaltende psychologische, emotionale oder körperliche Auswirkungen auf uns haben kann. "Ein Trauma ist eine seelische Wunde, die uns emotional verhärtet und in der Folge unsere Fähigkeit, zu wachsen und uns zu entwickeln, beeinträchtigt", sagt Gabor Maté. Mit anderen Worten: Trauma zeigt uns, dass etwas passiert, mit dem wir nicht fertig werden. Wir verharren im Freeze-Modus, fühlen uns ständig angespannt, ängstlich oder erschöpft, lange nachdem das Ereignis selbst längst nicht mehr existiert. Im Gegensatz zu der Art und Weise, wie wir den Begriff oft im Alltag verwenden, ist für Gabor Maté Trauma nicht das Ereignis selbst, sondern unsere Reaktion darauf: Der äußere Stress ist nur das Symptom; der eigentliche Stress ist das, was in unserem Nervensystem abläuft. Um mit dem Schmerz umzugehen und letztlich unser Überleben zu sichern, gehen wir in die Dissoziation; wir betäuben uns, lenken uns ab, erstarren und vermeiden Gefühle.


Wenn wir den Begriff "Trauma" hören, denken die meisten von uns wahrscheinlich zuerst an schwere, lebensbedrohliche Ereignisse wie Gewalt, Missbrauch, Unfälle oder Naturkatastrophen. Diese lösen die so genannten "Big T-Traumata" aus. Es gibt jedoch auch weniger offensichtliche, oft alltägliche Erlebnisse, die so genannte "Little T-Traumata" verursachen können. Die "Little T's" sind vielleicht nicht so intensiv wie die "Big T's", können aber ebenso tiefgreifende Auswirkungen haben, wenn sie wiederholt auftreten. Ständige emotionale Vernachlässigung, chronischer Stress am Arbeitsplatz, Verlustängste, Mobbing, soziale Ablehnung und Krankheit sind nur einige Beispiele.


Wir unterschätzen oder übersehen oft das Potenzial, das diese kleinen, alltäglichen Ereignisse haben können. Es äußert sich in der Regel in subtilen, aber tiefgreifenden Veränderungen in unserem Denken, Fühlen und Verhalten. Wenn wir beispielsweise emotional überreagieren, uns chronisch gestresst fühlen, Gefühllosigkeit empfinden oder mit Schwierigkeiten in unseren Beziehungen konfrontiert sind, könnten dies Anzeichen für eine Traumareaktion sein. Langfristig können sie, je nach Häufigkeit und Dauer, unter anderem auch zu Angststörungen, Depressionen oder geringem Selbstwertgefühl führen und sich somit lähmend auf alle Bereiche unseres Lebens auswirken.


Im Folgenden stellt Gabor Maté die sieben Auswirkungen von Traumata vor, die er als solche betrachtet:





Bei der Beantwortung der Frage, wie und wann sich ein Trauma entwickelt, spielen unsere Erfahrungen in der frühen Kindheit, vom Zeitpunkt unserer Empfängnis und unserer embryonalen Entwicklung während der Schwangerschaft bis hin zu unseren Teenagerjahren mit 15/16 Jahren, eine besondere Rolle. Während unserer Kindheit sind wir mehr denn je von unserer Bindung zu unseren primären Bezugspersonen abhängig. Wenn wir in dieser prägenden Zeit emotional schmerzhaften Erfahrungen ausgesetzt sind, haben diese einen großen Einfluss auf die Entwicklung unserer erwachsenen Persönlichkeit und die Art, wie wir Beziehungen erleben und leben. Nach Gabor Maté ist diese Art von Trauma eine der Hauptursachen für viele unserer späteren Probleme als Erwachsene. Es wird als Bindungstrauma (auch Beziehungs- oder Entwicklungstrauma genannt) bezeichnet und entsteht, weil wir unsere Bindung zu unseren primären Bezugspersonen (in der Regel unsere Eltern) als unsicher, dysfunktional oder stressig empfinden. Oft wird es durch Vernachlässigung, emotionale oder körperliche Misshandlung, Trennung oder andere instabile und unsichere Bedingungen verursacht.


Lasst uns ein wenig tiefer eintauchen.


Was sind die Symptome eines Bindungstraumas?


In unserer Gesellschaft und vor allem in unserem Berufsleben hat sich über die Jahre die Vorstellung durchgesetzt, dass wir immer leistungsfähig und emotional stabil sein müssen. Traumatisierte Menschen können zusätzlichen Druck verspüren, ihre Verletzlichkeit zu verbergen, um diesen Erwartungen gerecht zu werden. Von außen betrachtet scheint es, als würden sie ein scheinbar normales Leben führen: Sie gehen zur Arbeit, pflegen soziale Beziehungen, erfüllen ihre täglichen Verpflichtungen - sie funktionieren. Nicht selten erscheinen sie auch nach außen hin sehr belastbar.


Obwohl die Symptome nicht immer offensichtlich sind, zeigen sie sich dem aufmerksamen Beobachter auf verschiedene Weise: Die Betroffenen können Schwierigkeiten haben, vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen oder empfinden sie als bedrohlich. Andere von ihnen tun sich schwer, emotionale Nähe zuzulassen oder suchen verzweifelt nach Bestätigung und Sicherheit bei anderen. Schwierigkeiten, die eigenen Gefühle zu regulieren, oder ein dauerhaft negatives Selbstwertgefühl, aber auch eine besonders empfindliche Reaktion auf Ablehnung oder gar Wut - die Anzeichen sind so vielfältig und individuell wie wir Menschen.


Während traumatisierte Menschen unbewusst einen Weg zu finden scheinen, sich vorübergehend an die Umstände anzupassen, kann dies eine Zeit lang gut funktionieren. Langfristig kann ein unverarbeitetes und unbearbeitetes Trauma unter anderem zu chronischem Stress, Erschöpfung, Angstzuständen, Schlafstörungen, emotionaler Taubheit, Gefühlen der Überforderung, Burnout, Depressionen, Suchtverhalten, posttraumatischen Belastungsstörungen oder emotionalen Zusammenbrüchen führen.


Über Trauma zu lernen, zu erforschen, wie wir alle mit unseren Schutzprogrammen umgehen und wie wir uns aus der neurologischen Überlebensfalle befreien können, sind wichtige Voraussetzungen auf dem Weg zu einem gesünderen Leben mit Trauma - ob wir selbst betroffen sind oder jemand, den wir kennen oder lieben. So kann unter bestimmten Bedingungen aus einer traumatischen Erfahrung ein posttraumatisches Wachstum entstehen, das ohne diese Herausforderung vielleicht nicht möglich gewesen wäre. Das bedeutet nicht, dass ein Trauma trivialisiert wird; es geht darum, zu erkennen, dass aus den dunkelsten Momenten neues Licht entstehen kann.


Der Kern und der Pudel:

Ein Trauma ist eine normale Reaktion unseres Nervensystems auf außergewöhnliche Bedingungen, die es als extrem stressig und in unserem evolutionären Kontext als "lebensbedrohlich" einstuft. Sie treten in verschiedenen Phasen unseres Lebens auf, in unterschiedlichen Formen, Arten, Kombinationen, Häufigkeiten und Schweregraden. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir alle mindestens ein traumatisches Erlebnis in uns tragen, ist entsprechend hoch. Zudem hat ein Trauma nicht nur eine psychische, sondern auch eine körperliche Dimension. Was unser ANS nicht verarbeiten kann, bleibt im Körper und wir tragen es überall und unser ganzes Leben lang mit uns herum. Bleibt es also unverarbeitet, kann es auch zu körperlichen Erkrankungen führen.


Das Erkennen der oft subtilen Symptome eines Traumas macht es weniger stigmatisierend und damit in gewisser Weise "normaler". Darin steck sowohl eine Chance als auch ein Risiko: Einerseits wird das Sprechen über Trauma dadurch weniger zum Tabu, und es wird für alle Betroffenen einfacher, um Hilfe zu bitten. Andererseits kann sich ein deregulierter Zustand für die, die nicht wissen, wie sich ein nicht traumatisierter Zustand anfühlt, als völlig normal anfühlen. In der Folge bleibt ihr Trauma unbehandelt und unverarbeitet - was sie daran hindern kann, ein besseres Leben zu führen.


Wie Coaching unterstützen kann:

Die unmittelbare Verarbeitung und Heilung von Traumata findet in der Therapie statt. Sie erfordert gezieltes psychologisches Fachwissen und den Einsatz von klinischen Ansätzen durch Spezialisten. Im Gegensatz zur Therapie steht beim Coaching die Förderung des persönlichen Wachstums durch handlungs- und lösungsorientierte Ansätze im Vordergrund. Wenn Coaches in der Arbeit mit ihren Klienten Anzeichen von Trauma erkennen, sind sie verpflichtet, ihnen anzubieten, sie an einen qualifizierten Therapeuten oder Psychologen zu verweisen.


Dennoch können Coaches den sogenannten traumasensiblen oder traumainformierten Coaching-Ansatz nutzen, um traumatisierte Menschen bei der Erreichung ihrer Ziele zu unterstützen. Coachees können traumatische Erfahrungen in ihrer Vergangenheit haben, die ihre Fähigkeit beeinträchtigen, bestimmte Dinge in ihrem Leben zu erreichen, die ihnen wichtig sind, oder sich in bestimmten Bereichen zu entwickeln und zu wachsen. Trauma-informiertes Coaching kann das Erreichen dieser Ziele unterstützen, indem es die Auswirkungen des Traumas auf das Leben des Coachees berücksichtigt. Das kann eine wertvolle Unterstützung für den Klienten sein, die es ihm ermöglicht, weiter an seinem persönlichen Wachstum zu arbeiten und beruhigende, stabilisierende Routinen in einem sicheren, unterstützenden, empathischen und respektvollen "Raum" zu entwickeln, in dem seine traumatischen Erfahrungen validiert werden.


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